Stefan Paul Trzeciok und Saskia Neuthe leiten das ExMe Ensemble Casa Casanova. Saskia Neuthe studierte an der Zürcher Hochschule der Künste Theaterpädagogik. Seitdem leitet und initiiert sie in Berlin und in der Schweiz Theaterproduktionen. Seit 2015 ist sie freischaffend, inszenierte für das Gorki Theater und Churer Stadttheater. Parallel dazu unterrichtet sie an Berliner Oberschulen das Schulfach Darstellendes Spiel. Stefan Paul Trzeciok studierte Alte Geschichte und Latein an der Humboldt Universität zu Berlin und promovierte an der Freien Universität Berlin über das Thema Bewegung in der Naturphilosophie der Renaissance. Als freischaffender Autor orientiert er sich an philosophischen und literarischen Texten, oftmals historisch, aber auch an filmischen Medien. Wir sprachen mit ihnen über das Ensemble Casanova und über die aktuelle(n) Produktion(en) Angeli di Berlino.
» Das Ensemble CC beschreibt sich als „fiktives Künstlerhaus, in dem sowohl Laien als auch professionelle Künstler*innen verschiedener Sparten wohnen“. Wie kam es zu dieser Setzung und wie wirkt sie sich auf die Arbeit des Ensembles aus? Und was hat Casanova damit zu tun? «
SPT: Bei dem Bekenntnis geht es erst einmal darum, sich nach außen zu positionieren, wo häufig eine Unterscheidung zwischen Laienkunst und professioneller Kunst gezogen wird. Beides hat seinen Charme und seine Nachteile. Bei ExMe sollte ein Hybrid entstehen, der die Vorteile beider versucht zu nutzen. Es soll ideell aber auch den Druck, den diese Zuschreibungen erzeugen, aus dem Verhältnis der Akteur*innen zueinander zu nehmen und eine Gleichwertigkeit untereinander zu erzeugen. Wir bezeichnen uns als Kollektiv, was aber nicht bedeutet, dass es keine Arbeitsteilung, Verantwortungsbereiche oder Entscheidungskompetenzen gibt.
Der Satz steht in gewisser Weise auch in einer Tradition von ExMe, die sich an den Ideen von Franz Kafka im Roman Amerika orientiert, wo ein Naturtheater auftaucht, das jede*n braucht. Ganz so offen ist das Ensemble zwar nicht, weil es sich über Kooption ergänzt, aber die Referenz ist in der Hinsicht wahr, dass wir denken, dass jede*r im Ensemble ihre oder seine Fähigkeiten, ihren oder seinen Antrieb oder Spiellust einbringen kann und dass Theater auch so viele Nebengewerbe integriert, dass fast alles nötig ist. Fast jeder Laie ist ja irgendwo anders professionell.
Casanova bezieht sich im Übrigen nicht allein auf den bekannten, proto-polyamorösen Hochstapler, sondern auf die gesamte Künstlerfamilie Casanova, darunter Schauspieler*innen, ein Maler, natürlich auch der Schriftsteller Giacomo. Nicht zu vergessen sind die Familienmitglieder, über die nichts überliefert wird. Bei uns müssen allerdings die Ensemblemitglieder früher oder später alle auf die Bühne. Die gemeinsame Bühnenerfahrung erzeugt die Zugehörigkeit.
» Was bewegt euch gerade und worum geht es in eurer aktuellen Arbeit? «
SPT: Die Pandemie-Zeit machte gesellschaftliche Auseinandersetzungen öffentlich sichtbar, die schon lange schwelten, bei denen es letztendlich um Deutungshoheit, Identität, Selbstverständnis, Gesehen und erhört werden geht. Die Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung ,zwischen Selbst- und Fremddarstellung, zwischen Instrumentalisierung und Selbstinstrumentalisierung, zwischen Gesehen werden und übersehen werden, all das kann im Rahmen eines Filmsets, wie es bei Angeli di Berlino oder Anything goes auf der Bühne dargestellt wird, sehr gut diskutiert werden, weil beispielsweise der Unterschied zwischen dem/der Schauspieler*in als Schauspieler*in am Filmset und als Person am Filmset offensichtlich ist. Da braucht es schon vom Plot her keiner brechtschen Distanzierung. Wer unterstützt wen aus welchen Gründen? Wer hat warum Ressentiments gegen das, was er oder sie selbst tut? Wer skandalisiert was, welche Kontexte werden um Sachverhalte gezogen, welche Sichtweisen warum eingenommen?
SN: Nach der Premiere im Februar 2020 von Angeli di Berlino oder Jede*r kämpft für sich allein, begann die Corona-Pandemie, die unser aller Leben sehr verändert hat. Im folgenden Sommer beschloss das Ensemble, die Produktion wiederaufzunehmen und diskutierte darüber, eine neue Folge zu konzipieren. Nach den Gesprächen mit den Spieler*innen fragten wir uns, welche Themen wir in die neue Folge einarbeiten wollen würden. Zum damaligen Zeitpunkt trieb mich die Frage um, wie bedeutsam wir zur Zeit sind und welchen Dingen wir persönlich und gesellschaftlich Bedeutung beimessen. Diese Frage resultierte aus dem Auftauchen des Begriffs „Systemrelevanz“. Als freischaffende Künstlerin wurde mir indirekt in der Krise die Relevanz abgesprochen, da plötzlich Berufsgruppen öffentlich priorisiert wurden. Darstellende Künste schienen nicht mehr notwendig zu sein. Daraus entstand die Idee, was wäre, wenn sich die Schauspieler*innen von Angeli die Berlino am Filmset aus völlig unterschiedlichen Motiven in eine Sinnkrise stürzen würden, weil ihnen die Bedeutung abhandengekommen ist. Was bedeutet das für den Plot und für die Entwicklung der Seriencharaktere? Wichtig war uns, nicht direkt auf eine Sinnkrise durch COVID-19 zu referieren. Das ist ja mehr Anlass als Ursache einer solchen Fragestellung.
» Was sind eure wichtigsten Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit Verschwörungstheorien? «
SPT: Distanz ist das Zauberwort.
SN: Es war ein sehr emotionales und aufgeladenes Unterfangen. Die Fronten gingen quer durch das Ensemble – sehr emotionalisiert. Es gab zwei, die deshalb ausgestiegen sind. Zum damaligen Zeitpunkt wollte ich es verstehen lernen, so absurd die „Faktenlage“ auch schien. Wir suchten nach historischen Vergleichen, studierten die rhetorischen Muster und beschäftigten uns mit dem ideologischen Aufbau von Verschwörungstheorien und auch Sekten. Jedes Phänomen ist natürlich komplex und hat seine Ursächlichkeiten und Kausalketten. In diesem Phänomen – mit all seinen „alternativen Wahrheiten“ und Glaubensanhänger*innen – wurden für mich bestimmte Aspekte sichtbar: Ein permanentes Wechselspiel zwischen „Das Private ist politisch und umgekehrt“. „Das Politische“ wurde in diesem Phänomen mehr denn je im privaten Lebensraum ausgetragen.
Das führt mich zu der Behauptung, dass normalerweise öffentliche Diskurse mehr von politischen Gruppierungen ausgetragen wurden. Doch hier wurde die Diskussion auf existentielle Weise bis in die Familie hereingezogen. Ich sprach u.a. mit Personen, die berichteten, dass sie den Kontakt zu ihren Müttern und Großmüttern abgebrochen haben, weil die Radikalisierung überhandnahm. Das hatte mich bewegt, weil man spürte, dass die Gesellschaft Menschen verliert und sich Menschen als Reaktion noch mehr isolieren und Gruppen oder Familien im Netz anschließen.Manche benutzen ähnliche Termini, wie es Sekten tun: Wir sind die Guten, die da draußen, die Bösen. Es wurde zu ihrer Identität und mit Identitäten verhandelt man nicht. Auch wenn die Bewegung wieder abklingen wird, erzählt sie uns etwas sehr Wichtiges: Unsere Welt nimmt sekündlich an Komplexität zu. Das überfordert uns maßlos, erzeugt neue Symptome mit stellvertretenden Symptomträgern. Die Sehnsucht nach Erklärbarkeit und einfacheren Zusammenhängen wird immer eine Folgereaktion auf komplexe Phänomene sein. Wie können und müssen wir in der Zukunft mit diesem Spannungsverhältnis umgehen und uns besser darauf vorbereiten?
» Für eure letzten Stücke und auch für die aktuelle Produktion spielt das Format der Fernsehserie eine Rolle. Welche Bedeutung hat dieses Format für euch und wie werdet ihr es weiterentwickeln? «
SN: Dieses Format ist für mich ein ganz besonderes und anspruchsvolles Unterfangen. Normalerweise arbeite ich themenorientiert. Mit der jeweiligen Gruppe widmen wir uns einer Frage, schlachten das Thema aus und bilden es am Ende auf der Bühne ab. Danach folgt ein neues Thema, Genre und Ensemble.
Bei Angeli di Berlino besteht die Herausforderung darin, ein Theaterstück weiterzuerzählen. Genau wie in einer Fernsehserie, in der wir wissen wollen, wie die Handlung und die Entwicklungsstränge der Protagonist*innen weiterehen. Jede Angeli di Berlino-Folge ist jedoch auch ein geschlossenes Theaterstück und unterliegt einem aktuellem Narrativ, dass aus zwei Erzähl- und Handlungssträngen besteht. Diesem Umstand waren wir in jeder Phase ausgeliefert und suchten immer wieder nach neuen Idee, passten alte Ideen an usw. Die begleitende Frage ist stets: Wie schaffen wir es, die Zuschauer*innen, die uns bereits kennen zu unterhalten und wie nehmen die Zuschauer*innen mit, die uns in der zweiten Folge zum ersten Mal sehen?
SPT: Bei Angeli di Berlino war anfangs gar nicht vorgesehen, dass sich ein zweiter Teil an den ersten anschloss, der damals Angeli di Berlino oder Jede*r kämpft für sich allein hieß. Am Anfang stand eher die Idee, sich mit der Produktion von Medien auseinander zu setzen, und die Idee des Filmsets, die sich dann auf die Produktion einer Soap-Oper bezog. Die Gruppe hatte sich nach Jede*r kämpf für sich allein getroffen, um über eine Wiederaufnahme des ersten Stücks nach dem harten Lockdown im Frühling 2020 zu sprechen. Doch dann wollten einige lieber etwas Neues machen, haben eine Fortsetzung vorgeschlagen und haben die anderen überzeugt. Wir hofften, dass sich – wenn man sich kein neues Setting und keine neuen Charaktere ausdenken muss – die Produktionszeit verkürzen würde. Sonst dauert eine Produktion ja fast anderthalb Jahre. Eine Verkürzung wurde aber nur zum Teil erreicht. Man findet immer etwas, an dem man noch arbeiten könnte. Und der Seriengedanke setzte auch Grenzen, weil wir die Kontinuität von Rollen und Setting beachtet haben. Hätten wir im Nachhinein vielleicht gar nicht tun müssen. Aber Kontinuität zählte damals zu unseren Vorstellungen von Serie. Als Resonanz kann man vielleicht ziehen, dass nach und nach die Lust wächst, bei der nächsten Produktion selbst etwas Filmisches zu entwickeln, also nicht nur Filmset zu spielen.
» Ihr ordnet euch dem Genre der Komotrödie zu: Was ist das genau und worin besteht der Unterschied zur Tragikkomödie? «
SPT: Eine Tragikkomödie neigt dazu, eine Tragödie mit komischen Elementen zu sein. Eine Komotrödie ist die Verballhornung einer Komödie, zur Not auch mit tragischen Elementen. Letzteres wird in Angeli di Berlino oder Anything goes vorgeführt. Der Unterschied liegt meiner Meinung darin, dass eine Komotrödie etwa im Gegensatz zur bürgerlichen Komödie eine gewisse Selbstironie widerspiegelt und dass deswegen das Publikum durch Lachen eine Distanz zur Bühnensituation bekommt, die aber nicht so böse ist wie die Satire, nicht so nihilistisch wie die Farce, sondern nur etwas zur Groteske neigt. Also formal ähnlich dem Satyrspiel oder der Tragikkomödie im dürrenmattschen Sinne. Aber eher eine Annäherung von der Komödie als von der Tragödie. Mit dem Term Komotrödie wollen wir uns dahingehend positionieren, dass vielerlei ernstes Geschehen in der Welt uns wie eine schlechte Komödie vorkommt, das voraussichtlich eher in einer Tragödie enden wird. Auf die eine oder andere Weise verarbeiten wir Themen, die wir für ernst zu nehmen halten und sie deswegen lapidarisieren. Am Ende finden wir es wichtig, dass die Menschen über ihre eigene Perspektive hinausgucken können, die Perspektive der anderen beachten und dementsprechend polykomfortabel handeln. Dafür braucht es Reflexion. Mit Lachen kann man Reflexion erzeugen. Das funktioniert natürlich nur zum Teil, weil wir selbst eine Perspektive erzeugen. Daher ist die Selbstironie so wichtig.
» Vielen Dank, Paul und Saskia! «
Das Interview führte Cäsar Gäsdorf.