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» ExMe im Gespräch « mit Daniela Marcozzi

Daniela Marcozzi ist Regisseurin, Performerin und Autorin. Seit 2015 lebt und arbeitet sie in Berlin, wo sie die freie Gruppe „Marcozzi Contemporary Theater“ gründete. Neben ihrer Ausbildung in Tanz und physischem Theater schloss sie 2007 einen Master in Biotechnologie ab und arbeitete einige Jahre in der wissenschaftlichen Forschung. Diese Erfahrungen fließen ein in ihre Recherchen nach einem zeitgemäßen physischen Theater. In ihrer künstlerischen Arbeit sucht sie nach den Berührungspunkten zwischen Politik und Poesie, Physiologie und Imagination, individueller und kollektiver Erinnerung. Nach ihren beeindruckenden Soloperformances der „Trilogie der Macht“ initiierte und leitete sie 2020 „On Urgency“ – ein kollektives, künstlerisches Forschungsprojekt. Es basierte auf einer weltweit durchgeführten Umfrage, die erkundete, was für Menschen dringlich ist. Die Ergebnisse der Umfrage wurden mit künstlerischen Methoden gelesen und performativ übersetzt, wobei der Fokus auf den oft verborgenen Beziehungen zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven lag. Aktuell arbeitet die Gruppe gemeinsam mit der PAN/k Theater Company an „On urgency*nesting“ und überträgt damit die im letzten Jahr erarbeitete Methode in neue Kontexte.

» Wie ist die Idee zu On Urgency entstanden?«

In Pescara, der Stadt am adriatischen Meer, in der ich geboren bin, fällt mir jedes Mal auf, wie sehr sich das Meer und das maritime Umfeld verändern. In einigen Gegenden ist es heute nicht mehr möglich, zu baden, ohne krank zu werden. Das Wasser ist stark verschmutzt von dem, was die Industrie ins Meer leitet. Das Meer spült Plastikmüll an den Strand; das Wasser wird immer wärmer und trüber. Wo es in meiner Kindheit viele Fische gab, dominieren heute Algen und Quallen. Das berührt mich zutiefst. Wenn sich mein Umfeld ändert, ist es, als ändere ich mich. Das verdreckte Meer bin ich. Die Idee zu „On Urgency“ entstand aus diesem Sich-nicht-wiedererkennen, aus einem Problem der Identität heraus, also anfänglich aus einer persönlichen Erfahrung. Letztlich geht es aber um die Beziehung von uns allen zur Welt.

» Euer aktuelles Projekt „On urgency*nesting“ erforscht unsere Beziehung zur Umwelt. Welcher Begriff von Umwelt liegt dem zugrunde? « 

Unser Begriff von „Umwelt“ ist nicht an ein ökologisches Konzept gebunden, bzw. nicht darauf beschränkt. Es geht uns um eine Beziehung zur umgebenen Welt, die auch von sozialen und kulturellen Faktoren geprägt ist. Welche Dringlichkeiten spiegeln sich in dieser Beziehung? Welche Verben verwenden wir, wenn wir darüber sprechen? Wie können wir eine Perspektive entwickeln, die nicht utilitaristisch ist und die „(Um)welt“ nicht auf eine Ressource reduziert?

» Ausgangspunkt für die performative Arbeit in „On urgency“ sind Fragebögen. Wie gelangt ihr vom reflexiven Abstand zum „Embodiment“ und schließlich zum performativen Ausdruck? «

Das ist wirklich die große Herausforderung dieses Projektes! Was die Dualität von „denken und fühlen“, „Mensch und Umwelt“, „Körper und Geist“ betrifft, kann es helfen, an ein Orchester zu denken. Es kommt darauf an, sich des Dialogs zwischen diesen vermeintlichen Gegensätzen bewusst zu werden, der unsere Handlungen bestimmt. Hier hilft das Konzept der Verkörperung, das im Prozess der Kreation für uns eine zentrale Rolle spielt.

»Du hast anfangs den Begriff „Identität“ verwendet, der viel diskutiert wird. Was meinst du genau damit?«

Für mich ist Identität ein kontinuierlicher Dialog – also wandelbar. Es geht um ein „situational self“ – gerade auch im performativen Kontext. Authentizität und Wahrheit entstehen da nicht durch Fakten, sondern dadurch, dass Performende Impulse dieses Dialogs in sich wahrnehmen und einen Ausdruck dafür finden, der ihrer ganz konkreten Situation in einem bestimmten Moment angemessen ist. Erst wenn es gelingt, diese Impulse wahrzunehmen, können sie künstlerisch kanalisiert eine performative Form finden.

»„On urgency*nesting“ wird durchgeführt als künstlerische Residenz im Rahmen von Theater ExMe Mobil – Vertrauen in Bewegung (ein KunstWerkHof) im Juli in den Abruzzen und im Juni in Berlin zu den HofFestSpielen. Worin unterscheiden sich die beiden Projektzyklen?«

Berlin ist ein nahezu grenzenloses Experimentierfeld für Kunstschaffende. Mit den Residencies in den abbruzzischen Städten Teramo und Pescara transferieren wir unsere Arbeitsmethode erstmalig in ein nicht großstädtisches Umfeld und arbeiten mit lokalen Künstler*innen zusammen. Unsere Interventionen dort werden besonders ortsgebunden sein. Sie involvieren lokale Communities und beziehen sich auf Orte, die den Menschen in diesen Communities wichtig sind. Gleichzeitig werden wir in den Abruzzen nur Umfragen verwenden, die vor Ort entstanden sind. Im urbanen Kontext Berlins arbeiten wir wieder mit Umfragen aus aller Welt. 

»Sowohl in den Abruzzen als auch in Berlin: „On urgency*nesting“ bezieht diesmal Menschen aller Altersgruppen ein …«

Wir möchten diesmal auch erforschen, ob und wie die Beziehung zur Welt und die Sprache, die dafür verwendet wird, sich über Generationen hinweg verändert. Diesmal sammeln wir die Antworten nicht nur in schriftlicher Form. Es ist auch möglich, per Video- oder Tonaufnahme zu antworten.

» Was denkst du, kann ein Projekt wie On Urgency erreichen?«

Bereits die Umfrage lädt Menschen dazu ein, sich zu reflektieren und sich der eigenen Sinneseindrücke gewahr zu werden. Das, was normalerweise ausgeblendet ist, tritt an die Oberfläche und findet Ausdruck in den Antworten. Wie unsere Sinne unsere Welt wahrnehmen, verbindet sich mit der Frage nach dem, was für uns „Sinn macht“. Auf andere Art findet diese Reflexion auch bei den Performenden selbst statt und bei allen, die mit dem Projekt in Beziehung treten.

Daniela Marcozzi in „Lacuna“ ©Antonio Rana

» Was ist für dich in diesem Moment dringend?«

Der Beziehung zwischen Mensch und (Um)welt im Sinne des zuvor beschriebenen Begriffes von Authentizität auf den Grund zu gehen, aber auch die künstlerische Forschung von „On Urgency“ an sehr unterschiedlichen, vielleicht auch schwierigen Orten durchzuführen – mit großem Vertrauen in die Stärke der Community-Kunst, die darin besteht, das, was alle beitragen, dafür einzusetzen, Individuen aufzubauen.

Vielen Dank, Daniela!

Das Interview führte Cäsar Gäsdorf.

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